Wieviele Engel passen auf eine
Nadelspitze?
Robert Gernhardt
Die
bekannte Streitfrage der Gelehrten, wie viele Engel auf einer
Nadelspitze Platz haben, erregte die Gemuter der Pariser Theologen so
sehr, daß sich der Dekan im Jahr 1289 zu einem
ungewöhnlichen Schritt entschloss. Des Streites der drei sich
zankenden Gruppen müde, lud er sie am ersten Sonntag nach
Trinitatis in die Aula der Universität ein. „Wie
viele Engel haben nach Eurer Meinung Platz auf einer
Nadelspitze?“ fragte er Le Varlin, den Sprecher der ersten
Gruppe. „Kein einziger“, antwortete dieser,
„die ätherische Beschaffenheit dieser Wesen
...“ „Das wissen wir“, unterbrach ihn der
Dekan und sah Grandgouche, den Sprecher der zweiten Gruppe an.
„Was meinen Sie?“ „Naturlich
150“, entgegnete dieser, „wer sich nur etwas in den
Schriften des Thomas von Aquin ...“
„Danke“, sagte der Dekan und wandte sich an
Batteux, den Verfechter des dritten Standpunkts.
„Jeder“, sagte dieser zornig, „der nur
etwas Verstand hat, wird wissen, daß es unzählige
sind. Diese immateriellen Geschöpfe ...“
„Gut“, sagte der Dekan laut, „wir kennen
nun Ihre Meinungen. Jetzt passen Sie mal auf.“ Er griff in
die Tasche, holte eine Nadel heraus und steckte sie mit dem stumpfen
Ende in eine Tischritze. Darauf faltete er seine Hände, betete
inbrunstig, und nach kurzer Zeit kamen einige Engel in den Raum
geschwebt. Sie kreisten eine Weile uber der Nadel, dann setzte sich
erst einer darauf, nach einigem Zögern ein zweiter,
schließlich ein dritter. Ein vierter Engel versuchte es,
rutschte aus und fiel auf den Tisch.
Er versuchte es ein zweites Mal, wieder mißlang es, die Nadel
bot keinen weiteren Platz mehr. Die Engel blieben eine Weile, dann
verließen sie lautlos die Aula. „Bitte
schön“, sagte der Dekan nach einer Pause,
„es sind drei Engel, keiner mehr, keiner weniger. Und jetzt
beendet den Streit.“
Die Sprecher der Parteien schwiegen einen Moment. „Das waren
aber merkwurdige Engel“, sagte Le Varlin
schließlich. „Sie waren viel zu
groß“, sagte Grandgouche. „Jeder, der nur
etwas von Engeln versteht“, sagte Batteux, „wird
wissen, daß das keine waren, da ihre immaterielle Substanz es
ermöglicht, daß unzählige von ihnen auf
einer Nadelspitze Platz haben.“ „150“,
meinte Grandgouche. „Keiner“, sagte Le Varlin fest.
„Aber meine Herren“, rief der Dekan, „nun
ist doch bewiesen ...“ „Bewiesen ist nur
eines“, sagten die Sprecher aus einem Munde,
„daß das keine Engel waren.“
Und da sie sich das erste Mal in ihrem Leben einig waren, marschierten
sie schnurstracks zum Großinquisitor, dem der Dekan schon
lange ein Dorn im Auge war. Am zweiten Sonntag nach Trinitatis sah man
denn auch den schönsten Scheiterhaufen, der je vor Notre Dame
gebrannt hatte.
|