Henri Vieuxtemps über Dreieichenhain
Wir haben vorhin erfahren, dass Vieuxtemps unermüdlich und ruhelos in vielen Städten Europas und Amerikas unterwegs war. Eine Heimat im engeren Sinne besaß er nicht.1848 war Vieuxtemps das unstete Leben eines reisenden Virtuosen überdrüssig geworden und nahm eine Stelle als Kammervirtuose bei Zar Nikolaus und erster Violinlehrer in St. Petersburg an. Die materiellen Bedingungen waren ausgezeichnet, und das Publikum schätzte ihn sehr. Trotzdem entschloss er sich 1852, Russland zu verlassen, um -wie er sich ausdrückte- „zu den Brennpunkten des musikalischen Treibens“ zurückzukehren.
Mit einer Anzahl
neuer Kompositionen
versehen präsentierte ich mich wiederum den Musikfreunden von
West-Europa und
fand zu meiner Freude, dass man mich überall, in Deutschland,
Frankreich,
Belgien und England, in gutem Andenken behalten hatte. Auch jetzt
freilich
sollte es nicht lange dauern, bis das Bedürfnis nach einem
festen Wohnsitz,
sich bei mir aufs Neue, und noch ungleich stärker als zehn
Jahre zuvor, geltend
machte. Diesmal aber hatte ich das Glück, in Deutschland ein
Asyl zu finden.
Ende 1855 erwarb ich ein ländliches Besitztum, Dreieichenhain,
unweit Frankfurt
am Main, im Großherzogtum Hessen, welches von da an eine
Reihe von Jahren
hindurch mir und meiner Familie zum ständigen Aufenthalt
diente. Die hier verlebte
Zeit nenne ich ohne Bedenken die schönste meines Lebens. Die
idyllische Ruhe
der uns umgebenden Natur, die Reinheit der Luft, der ununterbrochene
Genuss der
von meinem Fenster aus zu überblickenden, mit der Kette des
Taunusgebirges
abschließenden Landschaft, alles dies vereinigte sich, Geist
und Körper in
wunderbarer weise zu verjüngen, und ich glaube mich nicht zu
täuschen, wenn ich
behaupte, dass meine in Dreieichenhain entstandenen Kompositionen dem
Einfluss
jener Faktoren die Frische und Natürlichkeit zu danken haben,
welche die Kritik
an ihnen gerühmt hat. Ein nicht zu unterschätzender
Vorzug meines Aufenthaltes
war seine Lage, beinahe mitten derjenigen Städte, welche
während der
Wintersaison meine Mitwirkung in Konzerten vorwiegend in Anspruch
nahmen, denn
selbstverständlich wurde meine künstlerische
Wirksamkeit nach außen durch die
Reize einer idealen Häuslichkeit nicht
beeinträchtigt.
Er berichtet
dann von seinen Reisen und
Konzerten z.B. in Stockholm, seinen neuen Kompositionen und
fährt anschließend
fort:
So verlebte ich
Jahre des reinsten,
durch Natur, Kunst und Familienfreuden verschönten
Lebensgenusses, ohne zu
ahnen, dass Schicksalsschläge schwerster Art meiner in
nächster Nähe warteten.
Der Bruderkrieg des Jahres 1866 verleidete mir den Aufenthalt in
Deutschland:
ich sagte meinem traulichen Dreieichenhain auf Nimmerwiedersehen
Lebewohl, um
gänzlich nach Paris überzusiedeln.