Portrait

Henri Vieuxtemps in Dreieichenhain

Dieses virtuelle Erzähl-Konzert ist ein Projekt der "Freunde Dreieichs", einer Arbeitsgruppe der Dreieicher Geschichtsvereine und Heimatkundigen. Es war als reales Geburtstagskonzert zum 200. Geburtstag von Henri Vieuxtems im April 2020 in der Burgkirche zu Dreieichenhain geplant. Wegen der Corona-Pandemie musste das Konzert abgesagt werden. Eine Neuauflage des Konzertes erwies sich aus verschiedenen Gründen nicht als gangbar. Als Ersatz werden die vorgesehenen Musikstücke aus dem breit gefächerten YouTube-Angebot dargebracht. Auch auf diese Weise erhält man einen Eindruck über die Virtuosität dieses Ausnahmekünstlers.

Bericht von Emil Nebel

Wir bleiben jetzt in der Zeit, als Vieuxtemps seinen Lebensmittelpunkt in Dreieichenhain hatte. Er pflegte regen Kontakt mit Wilhelm Egid Nebel, dem damaligen Pfarrer in Dreieichenhain. Dieser berichtete ausführlich in seinen Erinnerungen über das Verhältnis mit Vieuxtemps. Lesen Sie -->hier einen Auszug aus seinen Lebenserinnerungen, die sich mit Vieuxtemps befassen. Auch sein Sohn, Emil Nebel, hat über über Vieuxtemps berichtet. Wir danken dem Stadtarviv Dreieich für die Publikationserlaubnis beider Berichte.

Henri Vieuxtemps in Dreieichenhain
Emil Nebel

Eine der interessantesten Episoden während des 21-jährigen Aufenthalts meiner Eltern in Dreieichenhain waren die Jahre 1855 bis 1864, in denen der berühmte Geiger Henri Vieuxtemps dort wohnte. Man kann sich kaum jetzt noch eine Vorstellung machen, welches Aufsehen es in Deutschland erregte, als es hieß: Vieuxtemps zieht nach Dreieichenhain. Es war die Zeit der Virtuosen, die durch ihre Technik die Welt in Erstaunen setzten. In erster Linie Paganini und vorher schon Beriot und Spohr. Vieuxtemps stand damals auf der Höhe seines Weltruhmes. Er war wohl der größte Geiger nach Paganini, hatte bereits ganz Europa und Vorderasien bereist und mehrere Jahre in Petersburg als Hofkonzertmeister gelebt. Aber da er die meisten Anhänger besonders für seine ernste Kunst in Deutschland hatte, und zwar besonders in Frankfurt a. M., ließ er sich in dessen Nähe, in Dreieichenhain, nieder, da sich gerade die Gelegenheit bot, ein kleines, herrschaftliches Anwesen dort zu kaufen. Es entwickelte sich bald ein reger Verkehr mit meinen Eltern. Es kamen viele berühmte Musiker zu Besuch, um mit Vieuxtemps zu spielen und meine Eltern wurden meist dazu eingeladen. Bei unseren Taufen spielte Vieuxtemps in liebenswürdigerweise und noch jahrzehntelang erinnerten sich die Eltern und Verwandte an dieses musikalische Ereignis. Auch bei den Festen im Philippseicher Schloss spielte Vieuxtemps öfters.

Vieuxtemps war von kleiner Statur, zierlich gebaut und sah etwas exotisch aus. Er sprach völlig fließend deutsch, russisch, gut englisch und etwas italienisch und war ein vollendeter Weltmann. Von seinen Reisen konnte er sehr interessant erzählen, besonders von seinem längeren Aufenthalt in Konstantinopel. Er spielte auch einmal im Harem, erzählte er, dass er von den etwa 100 Haremsfrauen nur die schwarzen funkelnden Augen durch den Schleier habe strahlen sehen. Wenn sie versucht hätten, näher an ihn heranzukommen, habe der Ober-Eunuche sie knurrend zurückgewiesen.

Von Dreieichenhain aus machte Vieuxtemps eine Kunstreise nach Amerika. Er schrieb meinem Vater von dort, er habe zuerst gar keinen Erfolg gehabt, „die Amerikaner liebten mehr die Trommel als ihn“. Er komponierte rasch ein Stück eigens für Amerika, nämlich Variationen über den Yankee Doodle mit den tollsten Virtuosen-Mätzchen. Von da an habe das Publikum förmlich gerast und mit reicher Beute kam er nach Deutschland zurück.

Vieuxtemps gab öfters in Frankfurt Konzerte und lud unseren Vater dazu ein und da das Nachhausekommen in der Nacht fast unmöglich war, bat dieser auch den Pfarrer von Offenthal und dem dortigen Bürgermeister Billete zu geben, der dann seine Gäule einspannte, sodass die Besucher, allerdings auf einem primitiven Bauernwagen, gut hin und zurück kamen.

Als Abort im Hause Vieuxtemps diente ein kleines, frei in einem Nachbarwinkel vogelkäfigartig hängendes Anhängsel, das ohne Rohr in den Winkel ging. Unser Vater sagte einmal zu Herrn Vieutemps: „Ihre Staccatos und Piccikatos höre ich immer gern, aber Ihre Kackatos Pissikatos sehe ich nicht gern“, und kurz darauf war ein Ableitungsrohr und eine Grube angelegt.

Merkwürdigerweise lernten die Dreieichenhainer das Wort „Vieuxtemps“ nie richtig aussprechen. Sogar bei der Erinnerungsfeier an den 100. Geburtstag des Meisters, 1920, verlas der Vorsitzende des Geschichtsvereins ein Telegramm des Sohnes Max Vieuxtemps aus Paris und sprach die Unterschrift aus „Fixtems“.