Bericht von Emil Nebel
Wir bleiben
jetzt in der Zeit, als Vieuxtemps seinen
Lebensmittelpunkt in Dreieichenhain hatte. Er pflegte regen Kontakt mit
Wilhelm
Egid Nebel, dem damaligen Pfarrer in Dreieichenhain. Dieser berichtete
ausführlich in seinen Erinnerungen über das
Verhältnis mit Vieuxtemps. Lesen Sie -->hier
einen Auszug aus seinen Lebenserinnerungen, die sich mit
Vieuxtemps befassen. Auch
sein Sohn, Emil Nebel, hat über über Vieuxtemps
berichtet. Wir danken dem Stadtarviv Dreieich für die
Publikationserlaubnis beider Berichte.
Henri Vieuxtemps in
Dreieichenhain
Emil Nebel
Eine der
interessantesten Episoden
während des 21-jährigen Aufenthalts meiner Eltern in
Dreieichenhain waren die
Jahre 1855 bis 1864, in denen der berühmte Geiger Henri
Vieuxtemps dort wohnte.
Man kann sich kaum jetzt noch eine Vorstellung machen, welches Aufsehen
es in
Deutschland erregte, als es hieß: Vieuxtemps zieht nach
Dreieichenhain. Es war
die Zeit der Virtuosen, die durch ihre Technik die Welt in Erstaunen
setzten.
In erster Linie Paganini und vorher schon Beriot und Spohr. Vieuxtemps
stand
damals auf der Höhe seines Weltruhmes. Er war wohl der
größte Geiger nach
Paganini, hatte bereits ganz Europa und Vorderasien bereist und mehrere
Jahre
in Petersburg als Hofkonzertmeister gelebt. Aber da er die meisten
Anhänger
besonders für seine ernste Kunst in Deutschland hatte, und
zwar besonders in
Frankfurt a. M., ließ er sich in dessen Nähe, in
Dreieichenhain, nieder, da
sich gerade die Gelegenheit bot, ein kleines, herrschaftliches Anwesen
dort zu
kaufen. Es entwickelte sich bald ein reger Verkehr mit meinen Eltern.
Es kamen
viele berühmte Musiker zu Besuch, um mit Vieuxtemps zu spielen
und meine Eltern
wurden meist dazu eingeladen. Bei unseren Taufen spielte Vieuxtemps in
liebenswürdigerweise und noch jahrzehntelang erinnerten sich
die Eltern und
Verwandte an dieses musikalische Ereignis. Auch bei den Festen im
Philippseicher Schloss spielte Vieuxtemps öfters.
Vieuxtemps war
von kleiner Statur,
zierlich gebaut und sah etwas exotisch aus. Er sprach völlig
fließend deutsch,
russisch, gut englisch und etwas italienisch und war ein vollendeter
Weltmann.
Von seinen Reisen konnte er sehr interessant erzählen,
besonders von seinem
längeren Aufenthalt in Konstantinopel. Er spielte auch einmal
im Harem,
erzählte er, dass er von den etwa 100 Haremsfrauen nur die
schwarzen funkelnden
Augen durch den Schleier habe strahlen sehen. Wenn sie versucht
hätten, näher
an ihn heranzukommen, habe der Ober-Eunuche sie knurrend
zurückgewiesen.
Von
Dreieichenhain aus machte
Vieuxtemps eine Kunstreise nach Amerika. Er schrieb meinem Vater von
dort, er
habe zuerst gar keinen Erfolg gehabt, „die Amerikaner liebten
mehr die Trommel
als ihn“. Er komponierte rasch ein Stück eigens
für Amerika, nämlich
Variationen über den Yankee Doodle mit den tollsten
Virtuosen-Mätzchen. Von da
an habe das Publikum förmlich gerast und mit reicher Beute kam
er nach
Deutschland zurück.
Vieuxtemps gab öfters in Frankfurt Konzerte und lud unseren Vater dazu ein und da das Nachhausekommen in der Nacht fast unmöglich war, bat dieser auch den Pfarrer von Offenthal und dem dortigen Bürgermeister Billete zu geben, der dann seine Gäule einspannte, sodass die Besucher, allerdings auf einem primitiven Bauernwagen, gut hin und zurück kamen.
Als Abort im
Hause Vieuxtemps diente
ein kleines, frei in einem Nachbarwinkel vogelkäfigartig
hängendes Anhängsel,
das ohne Rohr in den Winkel ging. Unser Vater sagte einmal zu Herrn
Vieutemps:
„Ihre
Staccatos und Piccikatos höre ich immer gern, aber Ihre
Kackatos Pissikatos
sehe ich nicht gern“, und kurz darauf war ein Ableitungsrohr
und eine Grube
angelegt.
Merkwürdigerweise
lernten die
Dreieichenhainer das Wort „Vieuxtemps“ nie richtig
aussprechen. Sogar bei der
Erinnerungsfeier an den 100. Geburtstag des Meisters, 1920, verlas der
Vorsitzende des Geschichtsvereins ein Telegramm des Sohnes Max
Vieuxtemps aus
Paris und sprach die Unterschrift aus „Fixtems“.