Zum Gedenken an Annemarie Preusse aus Buchschlag
Am 06.06.2024 fand vor dem Jüdischen Friedhof in Sprendlingen eine Gedenkstunde für die Opfer des NS-Euthanasie-Programms aus den Orten des heutigen Dreieichs statt. Eine Gedenktafel mit fünf Namen auf einem Findling wurde im Beisein von Bürgermeister Burlon der Öffentlichkeit vorgestellt. Einer der Namen auf der Tafel war der von Annemarie Preusse aus Buchschlag. Es folgt ein Bericht, erstellt im Dezember 2024, über meine Recherchen zu ihrem Schicksal, deren Ergebnisse während der Gedenkstunde vorgetragen wurden. Die Offenbach-Post berichtete ausführlich über der Gedenkstunde. Auch ist ein Video-Film auf YouTube aufrufbar.
Dieses Kapitel behandelt wieder einmal keine bearbeiteten Steine, sondern das Ergebnis teilweise langwieriger Recherchen, die mit meinen Interessen für bearbeitete Steine durchaus konkurrierten.
Im Juni 2023 entschloss ich mich, nach möglichen NS-Euthanasie-Opfern aus Sprendlingen zu recherchieren. Eine Anfrage an die Gedenkstätte Hadamar, eine der Tötungsanstalten für behinderte Menschen, ergab, dass drei Patienten aus Sprendlingen und ein Patient aus Götzenhain dort ermordet wurden. Die detaillierten Ergebnisse dieser Recherche werden an anderer Stelle publiziert.
Frau Michel von der Gedenkstätte Hadamar machte mich auf Annemarie Preusse aufmerksam, die in Buchschlag geboren sein sollte. Sie wurde von der Rheinhessen-Fachklinik Alzey am 25.02.1941 in die Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster verlegt. Ursprünglich sollte sie im Rahmen der Aktion T4 in die Tötungsanstalt Hadamar eingeliefert werden, wurde jedoch von der Verlegung "zurückgestellt". Am 04.03.1941 wurde sie aus der Anstalt Weilmünster entlassen. Frau Michel machte mich auf eine Akte im Hessischen Staatsarchiv aufmerksam (HHStAW Bestand 430/1, Nr. 1102). Dort sei der Geburtsort mit Sonderburg angegeben.
Ich hatte dann bei den Kolleginnen des Geschichtsvereins Buchschlag nachgefragt und erhielt die Information, dass Max Preusse und Witwe Elisabeth Preusse laut Verzeichnisse von 1931 und 1939 in Buchschlag, Hainer Trift 14, wohnten. Auf dem Buchschlager Friedhof befindet sich das Grab der Familie Preusse. Dort steht zu lesen: "Zum Gedenken an Annemarie 1908 - 1938". Annemarie Preusse war 1938 definitiv noch am Leben. Wir haben keine Erklärung für diese Inschrift.
Die Recherche im Staatsarchiv Wiesbaden ergab interessante Ergebnisse. Dort war die Geburtsurkunde als Kopie vorhanden. Annemarie Preusse wurde am 24.07.1908 in Sonderburg als Tochter des Kapitänleutnants Maximilian Benno Preusse und seiner Ehefrau Marie Catharina Elisabethe Preusse, geb. Freiin von Hunolstein, geboren. Sonderburg gehörte damals noch zum Deutschen Reich.
Aus den Dokumenten geht hervor, dass Annemarie Preusse am 15.04.1941 aus der Kuranstalt Hohemark in Oberursel entlassen wurde. Dies ist insofern erstaunlich, weil die Klinik seit 1939 als Reservelazarett der Luftwaffe diente. Das nächste Dokument belegt, dass man sie am 16.04.1941 in der Landesanstalt Eichberg aufnahm. Am 15.05.1941 bescheinigte Elisabeth Preusse, dass sie ihre Tochter Annemarie gegen ärztlichen Rat aus der Anstalt nahm. Sie wurde anschließend in die Anstalt Bethel verlegt.
Man kann spekulieren, ob Elisabeth Preusse wusste, was ihrer Tochter nach dem Aufenthalt in Weilmünster geschehen würde. Es gelang ihr, dass Annemarie von dort entlassen wurde und kurzfristig einen Platz in Oberursel erhielt. Nach der Umwandlung als Reservelazarett durfte in der Klinik weiterhin eine bestimmte Zahl von "Zivilkranken" behandelt werden. Nach kurzem Aufenthalt wurde sie anschließend nach Eichberg verlegt. Elisabeth Preusse war wahrscheinlich sehr froh, dass es ihr dann gelang, ihre Tochter in der v. Bodelschwinghsche Stiftung Bethel unterzubringen, denn diese Institution verweigerte die Teilnahme an den Euthanasie-Morden der Nationalsozialisten.
Ich erkundigte mich in Bethel nach dem weiteren Schicksal von Annemarie Preusse. Frau Kerstin Stockhecke teilte mir Folgendes mit:
Im Hauptarchiv Bethel ist ihre Krankengeschichte überliefert (HAB PatGiIII 3163/3460). Annemarie Preusse kam am 16.05.1941 in die „Psychiatrische und Nervenabteilung“ der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta. Hier wurde sie im Haus Magdala aufgenommen. Aus der überlieferten Krankengeschichte geht hervor, dass ihre Mutter sie in die Psychiatrie Sarepta begleitet hatte und auch die Angaben für die Erstanamnese machte.
Durch die Aufzeichnungen der Psychiatrie der Sarepta ist bei uns im Archiv eine sehr dichte Überlieferung der Krankengeschichten vorhanden, nicht aber der Verwaltungsakten. Somit gibt es keinen Schriftwechsel, dem entnommen werden kann, wie der Kontakt nach Sarepta zustande kam. Das gilt leider auch für die Entlassung.
Die Psychiatrie Sarepta war eigentlich eine Kurzzeitpsychiatrie, die Patientinnen blieben in der Regel mehrere Wochen oder Monate. Ein einjähriger Aufenthalt, wie bei Annemarie Preusse, war eher selten, denn sie blieb bis zum 12.6.1942 und kam dann in die Einrichtung Tannenhof bei Remscheid.
Das passt in das Bild: Von der Evangelischen Stiftung Tannenhof ist in Wikipedia zu lesen, dass während der Zeit des Nationalsozialismus es den Mitarbeitern gelang, die Deportation und Ermordung der meisten Patienten zu verhindern, die in den Augen der Machthaber ein „lebensunwertes Leben“ besaßen. Ich kontaktierte die Einrichtung, erhielt aber vom Chefarzt die telefonische Auskunft, dass er wegen der ärztlichen Schweigepflicht keine Informationen geben könne.
Ich gründelte weiter und fand in einem Zeitungsbericht die Information, dass die Leiterin des Remscheider Stadtarchivs sich mit dem Schicksal der Klinikinsassen der Stiftung Tannenhof während des Krieges beschäftigt. Und so war es auch. Frau Viola Meike arbeitet seit einigen Jahren an einer Gedenkdokumentation für die Remscheider Opfer der nationalsozialistischen Krankenmordaktionen. In diesem Zusammenhang hat sie auch eine Kurzbiographie für Annemarie Preusse erstellt – ausschließlich mit den Daten und biographischen Angaben, die sich aus den zur Verfügung stehenden Quellen ergaben.
Aus diesen Angaben ging hervor, dass sie am 25.07.1942 in der
Einrichtung Tannenhof "aus Buchschlag kommend" aufgenommen wurde.
Entlassen wurde sie aus Sarepta bereits am 12.06.1942. Dies bedeutet,
dass sie offensichtlich knappe 6 Wochen zuhause in Buchschlag war.
Wahrscheinlich suchte die Mutter in diesem Zeitraum nach einer weiteren
christlich geprägten Anstalt für den Folgeaufenthalt.
Leider ist diese Annahme nicht korrekt. Der Leiter der Stiftung Tannenhof teilte auf erneute Anfrage mit, dass das Aufnahmedatum der 12.06.1942 war. Vermutlich bezog sich die Angabe 25.07.1942 auf die formale Anmeldung bei der Stadt Remscheid.
Die Kurzbiographie von Viola Meike: Annemarie Preusse wurde am 24. Juli 1908 in Sonderburg geboren. Sie war unverheiratet und übte keinen Beruf aus. Am 25. August 1942 wurde sie, von Buchschlag bei Offenbach kommend, in der Anstalt Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen als Patientin aufgenommen. Im Zuge der teilweisen Räumung des Tannenhofs bei der „Aktion Brandt“ wurde sie in die Anstalt Hausen in Waldbreitbach gebracht. Am 6. Mai 1943 verlegte man die Patientin in die Landeskrankenanstalten Obrawalde bei Meseritz, Prov. Brandenburg, heute Polen (Międzyrzecz). Hier starb Annemarie Preusse noch im Jahr der Verlegung. Sie wurde 42 Jahre alt.
Da kein exaktes Sterbedatum in den Unterlagen verzeichnet war, empfahl Frau Meike, mich bei einem bestimmten Archiv zu erkundigen. Vorher hatte ich mich beim Standesamt in Sonderborg/DK vergeblich nach dem Todesdatum erkundigt.
Wie ich von diesem Archiv erfuhr, liegen dort Kopien von Abschriften aus Sterbebüchern des Standesamtes Meseritz-Obrawalde vor, in denen der Name Annemarie Preusse vorkommt, aber ohne die Angabe eines Sterbedatums.
Die Kopien dieser Sterbebücher wurden 2010 an das Landesarchiv Berlin übergeben (F Rep.119). Und hier enden meine Recherchen zum Schicksal von Annemarie Preusse, da auch im Landesarchiv Berlin keine weitergehenden Informationen zu erwarten sind.
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Die Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde war zwischen 1942 und 1945 wohl die schlimmste Tötungsanstalt im Rahmen der "wilden Euthanasie" nach Ende der Aktion T4. In Wikipedia ist zu lesen:
Regelmäßig erhielt die Anstalt Neueinlieferungen aus dem Rheinland und Westfalen, aus Berlin, Hamburg und Bremen. Diese Transporte trafen üblicherweise zwischen 23 und 24 Uhr auf dem anstaltseigenen Bahngleis ein und umfassten bis zu 300 Personen. Die Ankommenden wurden noch auf dem Bahnhof „selektiert“ und die nicht Arbeitsfähigen innerhalb weniger Tage umgebracht.
Die Ermordung der Patienten geschah in speziell eingerichteten Sterbezimmern und wurde von einer Krankenschwester folgendermaßen beschrieben: „Ich begleitete die Kranke in das Behandlungszimmer, nahm aus einer Tüte drei Esslöffel Veronal, löste es in einem Glas Wasser und gab es der Kranken zu trinken. Wenn sich die Kranke widersetzte, musste man eine dünne Sonde anwenden. Gelegentlich gab es dabei Nasenbluten“. Für die Männerabteilung berichtete ein Pfleger, dass Kranke in das Todeszimmer gerufen wurden, dort eine Injektion mit einer Überdosis Morphium oder Scopolamin in den Oberschenkel erhielten und dann „schnell starben“. Einige Patienten wurden durch Luftinjektionen (siehe Luftembolie) umgebracht oder erschossen. Allein zwischen Januar und September 1944 starben, so bekundete ein nur für die Mordanstalt geschaffenes fiktives Standesamt auf dem Totenschein, an „Herz- oder Altersschwäche“ 3241 Patienten. Anfangs wurden sie zur Einäscherung ins Krematorium von Frankfurt (Oder) transportiert, später auf dem Gelände in Massengräbern verscharrt.
Annemarie Preusse war aufgrund ihres Krankheitsbildes sicherlich nicht arbeitsfähig. Sie wurde wahrscheinlich im Mai 1943 ermordet. Das Engagement ihrer Mutter ließ sie die Aktion T4 überleben, letztendlich fiel sie aber der unerbittlichen nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie zum Opfer.
Nie wieder !!
Nach Abschluss dieser Recherchen informierte mich Frau Renate Rosenau, die seit fast 30 Jahren ehrenamtlich in der "Arbeitsgruppe NS-Psychatrie Alzey/Rheinhessen" die Schicksale der dortigen Patienten erforscht, über den Inhalt der von ihr zusammen getragenen Daten von Annemarie Preusse: Sie wurde am 23.04.1940 in die damalige Landes- Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen. Während des Westfeldzuges wurde diese Anstalt wie andere linksrheinische Anstalten für ein Reservelazarett evakuiert, die Kranken in rechtsrheinische Anstalten verlegt, die meisten kamen im Herbst zurück nach Alzey. Frau Preusse kam vom 16. Mai bis zum 17. September in die Landesheilanstalt Gießen. Nachdem die Tötungsanstalt Hadamar im Januar 1941 mit den Tötungen begann, gingen die Transporte auch ab Alzey, zunächst in die Landesheilanstalt Weilmünster als Zwischenanstalt und nach wenigen Wochen weiter nach Hadamar. Frau Preusse wurde bereits dem ersten Transport vom 25. Februar 1941 mit 60 Kranken zugeteilt. Die Tagebücher von Weilmünster geben ihre „Entlassung“ für den 4. März 1941 an, ohne Angabe des Entlassungsziels.
Wir können jetzt den Weg von Annemarie Preusse durch die verschiedenen Heilstätten nachvollziehen:
23.04.1940 - 16.05.1940 Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey
16.05.1940 - 17.09.1940 Landesheilanstalt Gießen
17.09.1940 - 25.02.1941 Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey
25.02.1941 - 04.03.1941 Landes- Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster
04.03.1941 - 15.04.1941 Buchschlag --> Kuranstalt Hohemark?
16.06.1941 - 15.05.1941 Landesanstalt Eichberg
16.05.1941 - 12.06.1942 Diakonissenanstalt Sarepta
12.06.1942 - 06.05.1943 Evangelische Stiftung Tannenhof --> Anstalt Hausen in Waldbreitbach
07.05.1943 - Mai 1942 Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde