Steine in der Dreieich
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Der Sprendlinger Thoraschrein-Vorhang


Dies ist eigentlich eine Seite, auf der historische Steine beschrieben werden sollen. Neben diesbezüglichen Aktivitäten bin ich noch Vorsitzender der Freunde Sprendlingens e.V. Der Verein für Heimatkunde engagiert sich seit langem für die Dokumentation der Geschichte der Sprendlinger Juden. Die Rückkehr des Thoraschrein-Vorhangs ist ein außerordentlicher Glücksfall, der mich veranlasst, die Geschichte im folgenden zusammenzufassen.
 
Der aus der Sprendlinger Synagoge gerettete Thoraschrein-Vorhang war siebzig Jahre verschollen. Jetzt wurde er von einem internationalen Antiquitätenhändler den Freunden Sprendlingens angeboten. Mit Mitteln des Vereins und mit Hilfe von Sponsoren konnte dieser kostbare Vorhang aufgekauft und nach Sprendlingen zurückgebracht werden. Er hat zwischenzeitlich seinen Platz im Untergeschoss der Dreieicher Stadbücherei gefunden.
 
Die spannende Geschichte dahinter: In der 1938 niedergebrannten Sprendlinger Synagoge stand gegenüber dem Eingang die Heilige Lade, ein Schrein, in dem die Thora-Rolle aufbewahrt wurde. Diesen Schrein verdeckte ein aufwändig gearbeiteter Vorhang (Parochet), der während des Gottesdienstes am Sabbat und an Festtagen zurückgezogen wurde. 1938 war die Situation für die Juden sehr schwierig, sie rechneten ständig mit Übergriffen, auch auf die Synagoge. Daher wurden die Kultgegenstände wie der siebenarmige Leuchter, die Thorarolle und der Vorhang des Schreins in Privathäusern gesichert. Dies bewahrte diese Gegenstände vor ihrer Vernichtung bei der Zerstörung der Sprendlinger Synagoge am 10.11.1938. Gustav Strauß (Schuhmacher, Hauptstraße 70, geb. 1885) hat die Gegenstände, darunter auch den Vorhang des Thoraschreins, bei sich versteckt. Kurz vor seinem Abtransport „nach Osten” am 17.9.1942 übergab er die Objekte Frau Umbach, einer Sprendlingerin, die sich heimlich in dieser schweren Zeit um die Familie Strauß gekümmert hatte. Nach dem Krieg übergab sie die Gegenstände einem Juden in Langen (möglicherweise ein Herr Göhr), der sie nach Frankfurt weiterleitete. Seitdem waren der Leuchter und der Thoraschrein-Vorhang verschollen. Die Thorarolle fand ihren Weg in die USA. Quelle: “Die Sprendlinger Juden”, S. 135, herausgegeben von den Freunden Sprendlingens.
 
Eines Abends im August erhielt ich einen Anruf von einem Antiquitätenhändler aus Antwerpen: Er habe den Sprendlinger Thoraschrein-Vorhang von einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Antwerpen gekauft und sähe es gerne, dass dieser wieder an seinen Ursprungsort zurückkäme. Der Händler fragte an, ob der Verein daran interessiert sei, ihn zu erwerben.

Vorhang Aus späteren Begutachtungen geht hervor, dass der Vorhang 1,95 x 1,14 m groß ist, aus grünblau schimmernden Seidensamt auf einer Baumwollunterlage besteht und mit Ornamenten, Applikationen und Schriftzügen versehen ist. In der Mitte erkennt man eine Krone, ein Sinnbild Gottes. Sie wird von zwei steigenden Löwen gehalten. Diese symbolisieren den Stamm Juda. Darüber sind die Buchstaben Kuf und Taw aufgestickt. Dies steht für „Krone der Thora“ (Keter Thora). Ein Davidstern befindet sich zwischen der Krone und den vier Zeilen mit hebräischen Schriftzeichen. Deren Übersetzung lautet:

Spende der Frauengemeinde
Zum Tage der Vollendung der hundertjährigen
Gründung der Synagoge
Der heiligen Gemeinde Sprendlingen
 
Darunter ist ein siebenarmiger Leuchter appliziert. Auf beiden Seiten des Vorhangs erkennt man einen aufgenähten roten Streifen mit je fünf Abteilungen, die mit den Anfangswörtern der 10 Gebote bestickt sind. Unterhalb befindet sich die Jahreszahl 5692, die nach unserer Zeitrechnung 1932 entspricht. Der Vorhang wurde offensichtlich zum jüdischen Neujahr 1932 gespendet, das am 12-13. September 1931 gefeiert wurde. Das Datum weist auf die Eröffnung der Sprendlinger Synagoge im Jahr 1831 hin. Ein kleines Stoffschild auf der Rückseite belegt, dass der Vorhang von der Firma Grünbaum in Kassel hergestellt wurde.

Der Vorhang ist in einem relativ guten Zustand; er lag allerdings 70 Jahre zusammengefaltet in einem Abstellraum. Im Samt sind daher die Abdrücke der erhabenen Applikationen an manchen Stellen zu erkennen. Eine Textilrestauratorin hat den Vorhang begutachtet und bestätigte dass es sich um Seiden-Samt handelt. Der Farbverlauf (oben blau, unten ein Stich ins Grünliche deutet auf eine gewisse Lichtempfindlichkeit hin, die bei einer späteren Präsentation berücksichtigt werden sollte. Oben rechts ist der Samt vom händischen aufziehen etwas abgegriffen.

Detail Über die Ortsbezeichnung und das Internet kam der Verkäufer dann auf die Freunde Sprendlingens, die sich in der Vergangenheit intensiv mit dem Schicksal der Sprendlinger Juden beschäftigt hatten. Natürlich war der Heimatkundeverein am Kauf dieses Vorhangs interessiert, da es sich um ein Objekt handelt, das für Sprendlingen und Dreieich von großer lokalhistorischer Bedeutung ist. Zunächst einmal wurde recherchiert: Es konnte ausgeschlossen werden, dass es sich bei Sprendlingen um das in Rheinhessen handelt. Mitarbeiterinnen des Jüdischen Museums in Frankfurt bestätigten die Korrektheit der Übersetzung. Es wurde Kontakt zur Jüdischen Gemeinde in Antwerpen aufgenommen. Es liegt eine schriftliche Bestätigung vor, dass der Inhalt der “Geniza” einem Mitglied der Gemeinde zur Vernichtung oder Weiterveräußerung überlassen wurde. (Eine Geniza ist ein Ort, in dem unbrauchbare Kultgegenstände aufbewahrt werden). Der Antiquitätenhändler erhielt den Vorhang von diesem Gemeindemitglied. Der Händler ist selbst Jude, er ist studierter Judaist und Historiker und arbeitete in der Vergangenheit im Holocaust-Museum in Washington und im Yad Vashem in Israel. Er ist spezialisiert auf Judaika. Der Sohn von Frau Umbach, der Dame, die den Vorhang während des Krieges versteckt hielt, konnte sich leider an den Vorgang nicht erinnern.
 
Die Ergebnisse der Recherche waren zufriedenstellend, leider konnte nicht geklärt werden, wie der Vorhang in den Besitz der jüdischen Gemeinde in Antwerpen gelangt ist und dort lange Zeit unbeachtet in einer Geniza lagerte. Es ist allerdings bekannt, dass viele Juden sich nach dem Krieg in der Diamantenstadt Antwerpen angesiedelt hatten, insbesondere weil es dort auch eine Gemeinde mit einer konservativen Ausrichtung gab.

Präsentation Die Freunde Sprendlingens waren bereit, einen Teil des geforderten Kaufpreises aus der Vereinskasse zu finanzieren. Durch Spenden der Sparkasse Langen-Seligenstadt, der Stadt Dreieich, des Kreises Offenbach, der Stadtwerke Dreieich und eines Privatspenders konnte dann der erforderliche Betrag in hohem vierstelligen Bereich aufgebracht werden. Der Vorhang soll nicht in einem Archiv verschwinden, sondern der Öffentlichkeit zugänglich sein. Die Freunde Sprendlingens und der Magistrat der Stadt Dreieich schlossen daher eine Dauerleihgabe- Vereinbarung ab, nach welcher der Vorhang in die Obhut bzw. in den Besitz der Stadt Dreieich gelangt. Die Stadt verpflichtete sich, den Vorhang im Rathaus oder einem anderen öffentlichen Ort in angemessener Weise zu präsentieren.

Die Übergabe an den Bürgermeister Martin Burlon fand am 10.10.2019 im Magistratssitzungszimmer des Dreieicher Rathauses statt. Die Lokalpresse berichtete ausführlich darüber:
FR: Seltenes Zeugnis jüdischen Glaubens in Dreieich
OP: Vorhang aus ehemaliger Sprendlingen Synagoge nach über 70 Jahren zurück

Ergänzung Oktober 2021: Nach der Unterzeichnung des Dauerleihgabevertrags bestimmte die Stadt Dreieich ein Platz im Untergeschoss der Dreieicher Stadtbücherei für die Präsentation des Vorhangs. Aufgrund der Corona-Situation verzögerte sich das weitere Vorgehen. Zudem gab es Differenzen zwischen der Stadt und dem Verein über die Art und Weise der Präsentation. Als Konsequenz kaufte der Verein eine Vitrine von Glasbau-Hahn, welche der Heimatverein in Biebesheim EinweihungEinweihungnicht mehr benötigte. Auch dort war ein Thoraschrein- Vorhang darin ausgestellt. Die Firma Lippold hat dankenswerterweise den Transport der schweren Vitrine übernommen. Der "Stadtfotograf" Michael Häfner schoss einige professionelle Bilder des Objektes. Der Vorhang wurde am 9.11.2021 im Anschluss an die Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof der Öffentlichkeit im Rahmen einer Feierstunde auf seinem neuen Standort vorgestellt. -->Hier ist ein Bericht der Offenbach-Post aufrufbar: "Ein Glücksfall für die Lokalgeschichte".