Steine in der Dreieich
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Der Isenburger kleine Fuß: Ein Irrtum


Neu-Isenburg wurde 1699 durch den in Offenbach residierenden Grafen Johann Philipp von Ysenburg und Büdingen gegründet. Es sollte Heimstatt für aus Südostfrankreich geflüchtete calvinistische Glaubensflüchtlinge werden. Die Motivation des Grafen war „Liebe und Mitleiden gegen die Verfolgten, Gnade, Barmherzigkeit und Güte“. Johann Philipp verfolgte natürlich auch kommerzielle Ziele: Die fleißigen und geschickten Neubürger sollten – nach Auslaufen der auf zehn Jahre festgelegen Privilegien – ihren finanziellen Beitrag zur Finanzierung der Grafschaft leisten. Die Neubürger erhielten damals neben der Hausstelle auch ein Gelände von 25 Morgen zur landwirtschaftlichen Nutzung. Um die Größe dieses Geländes gab es dann heftigen Streit. Grund dafür soll der „Isenburger kleine Fuß“ gewesen sein. Was hat es damit auf sich?

1959 veröffentlichte der verdienstvolle Heimatforscher Georg Blaum (1891 – 1962) in der „Landschaft Dreieich“ einen Artikel mit dem Titel „Der Isenburger kleine Fuß – Ein Beitrag zur Stadtgeschichte“. Dort wird Bezug genommen auf ein Buch „Cadastre ou Terrier“ aus dem Jahr 1709, in dem auf 364 Seiten in französischer Sprache die Zuteilung von Gelände durch den Grafen Johann Philipp an die hugenottischen Glaubensflüchtlingen beschrieben wird. Als Maßeinheit wird dort die „Toise“ genannt, ein Feldmaß mit einer Länge von 3,62 Meter. Ein Feldmaß kann man sich als eine Stange von definierter Länge vorstellen. Um Längen und Flächen auszumessen, legte man diese Stange hintereinander auf den Boden und erhielt somit z.B. auf die Breite und die Länge eines Ackers.

Wenn man etwas messen will, muss man ein Maß haben“, schreibt Blaum. In Paris wird der „Ur-Meter“ aufbewahrt, im Neu-Isenburger Stadtmuseum der „Ysenburger Ur-Fuß“. Es handelt sich um einen Messingstab mit einer Länge von 290 mm (genauere Angaben weiter unten), einer Breite von 23 mm und einer Stärke von 6,5 mm. Eine Schmalseite ist in 12 gleiche Abschnitte unterteilt, die je einem Zoll entsprechen. Auf den anderen Seiten sind Texte in französischer Sprache eingraviert.

Ysenburger Fuß








Die deutsche Übersetzung:

1. Breitseite:
Von Gottes Gnaden Charlotte Amalie, Pfalzgräfin und Prinzessin von Zweibrücken, Herzogin von Bayern, Jülich, Cleve und Berg, Gräfin von Waldenz und Sponheim und der Herrschaft Ravensburg, Herrin von Ravenstein, verheiratete Gräfin von Ysenburg und Büdingen &

Schmalseite:
Auf diesem Fuß sind gemessen die Hausplätze, Gärten und Güter der Einwohner von Ysenburg durch Herrn Andreas Löber.

2. Breitseite:
Johann Philipp, Graf von Ysenburg und Büdingen, hat dieses Maß von 12 Zoll („Pounces“) den Einwohnern von Ysenburg gegeben, um ihr Feldmaß („Toise de Campagne“) festzusetzen, welches 12 ½ mal 12 Zoll hält und für immer halten muss und womit alle ihre Güter zu messen sind, angefangen am 1. Juli des Jahres 1699.

Frontseiten:
A L  D D      und      E V  C F

Bei der Frontseitenbeschriftung AL, DD, EV und CF könnte es sich um die Initialen von Andreas Löber und seiner Gehilfen handeln (Peter). Man beachte das "&" am Schluss des Textes der ersten Breitseite. Es deutet darauf hin, dass, dass beide, die Gräfin und der Graf dieses Maß "gegeben" haben. Aber dann müsste es auf der zweiten Breitseite heißen ".... haben dieses Maß ..." (ont donné anstatt a donné). Möglicherweise war es ein Grammatik-Fehler des Graveurs.

Blaum führt in seinem Artikel aus: „Im Allgemeinen war die Länge eines Fußes 35 cm, jedoch schwankten die Werte. In Bordeaux galt er 35 cm, in Lyon 34 cm. Wie kommt es, dass der Isenburger Fuß beträchtlich kleiner war?“ Auf diese Frage wird jedoch keine schlüssige Antwort gegeben, außer dass es das Recht jedes Landesherren war, die Maße und Gewichte in dem jeweiligen Territorium festzusetzen.  Blaum schreibt weiter: „Eine im Voraus beabsichtigte Benachteiligung der Ansiedler muss ausscheiden, weil die Festlegung des Feldmaßes noch vor dem Ablegen des Huldigungseides erfolgte. Mit Fug und Recht ist der Messingstab deshalb der Isenburger kleine Fuß zu nennen.“

Hier irrt Blaum. Den auch in der Heimatliteratur öfters beschriebenen kleinen Isenburger Fuß gibt es nicht! Mit ca. 29 cm Länge entspricht der Messingstab den üblichen Füßen bzw. Schuhen der Nachbargebiete. Der Werkschuh in Frankfurt war 1777 mit 28,46 cm definiert. Aus den Besteinungsprotokollen der Grenze Ysenburg / Hessen-Darmstadt, die mit Hainer und Langener Ruthen als Feldmaß vermessen wurde, geht hervor, dass der Hainer Fuß 28,62 cm und der Langener Fuß 29,35 cm lang waren.

Aber woher kommen die Beschwerden und das böse Blut der Neusiedler wegen des zu kleinen Feldmaßes, das Blaum beschreibt? Die Antwort liegt auf der Hand: Üblicherweise war das in der Grafschaft Ysenburg gebräuchliche Feldmaß, die Ruthe, 16 Fuß lang (= 4,64 m). In der Gravur des Messingstabes wurde aber explizit ausgeführt, dass das Feldmaß der Neusiedler 12 ½ mal 12 Zoll (= 3,63 m) sein soll. Danach besaß ein Quadrat-Feldmaß (Quadrat-Toise) in Neu-Isenburg 13,14 qm, während z.B. in Sprendlingen ein Quadrat-Feldmaß (Quadrat-Ruthen) 22,09 qm beinhaltete. Da ist ein Verhältnis von 0,6 : 1.

Der Heimatforscher Nahrgang sprach in diesem Zusammenhang von Betrug, “… indem man ihre 25 Morgen mit der kleinen Isenburgischen Rute zu 12 Fuß gemessen hatte, so dass sie nur etwa die Hälfte hatten, wie ihre Glaubensgenossen in Walldorf”.  Nahrgang drückte sich nicht ganz korrekt aus: Die kleine Isenburger Rute (=Toise) beträgt 12 ½ Fuß (nicht 12 Fuß) und die “übliche” Rute 16 Fuß.

Tafel Nieder-ErlenbachWoher kommt der „krumme“ Faktor von 12 ½, der auf dem Messingstab genannt wurde? Ein Blick in Wikipedia zeigt, dass in Frankfurt vor 1872 eine Waldrute mit 16 Schuh und eine “Römische Werkrute” mit 12 ½ Schuh existierten. Auch gibt es einen Link zu einer Tafel am Nieder-Erlenbacher Rathaus. Daraus geht hervor, dass 12 ½ 5 Nieder-Erlenbacher Schuh eine Nieder-Erlenbacher Ruthe ergeben. Welche Relevanz diese Zahlen für Ysenburg im Jahr 1699 hatten, ist natürlich zu hinterfragen. Der Faktor 12 ½ war aber keine Ysenburger Spezialität.

Als Schlussfolgerung ist festzustellen, dass es keinen kleinen Isenburger Fuß, sondern eine kleine Isenburger Ruthe bzw. einen kleinen Isenburger Morgen gab. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Neusiedler sich vom Grafen Johann Philipp übervorteilt fühlten. Ob man wie Nahrgang vom Betrug sprechen muss, sei dahingestellt.

Die Beschäftigung mit diesem Thema weckte bei dem Autor den Wunsch, den Ysenburger Fuß einmal physisch in den Händen zu halten und vor allem ihn genau ausmessen zu lassen, denn die Angabe „29 cm“ weist nicht unbedingt auf eine Präzisionsmessung hin. Zusätzlich könnte dabei überprüft werden, ob der Ysenburger Fuß bzw. die normale Ysenburger Ruthe der Hainer Ruthe entspricht, mit der die Grenze Ysenburg / Hessen-Darmstadt 1725 und 1783 vermessen wurde.

Firma HornungDie Maschinenbaufirma Hornung in Neu-Isenburg („Präzision made in Germany“) wurde vom Autor kontaktiert. Der Vertriebsleiter, Herr Andreas Lerch, war sofort bereit, hier behilflich zu sein. Am 23.03.2021 waren der Autor und Christian Kunz, der Leiter der Neu-Isenburger Museen, mitsamt dem Ysenburger Schuh im Messlabor von Hornung. Der Messingstab wurde eingespannt und von dem Qualitätssicherungsmitarbeiter Thomas Reuter mit einem Messgerät der Firma Zeiss vermessen.

Dabei fiel auf, dass der Metallstab leicht gebogen und in sich verdreht war, was aber die Messung aber kaum beeinträchtigte. Kritischer war die Tatsache, dass die Enden des Stabes nicht plangeschliffen, sondern sogar noch mit einer Gravur versehen waren. Je nachdem, wo man die Messpunkte anlegte, erhielt man Werte von 289,69 mm bis 289,81 mm. Mit einem digitalen Messschieber wurden 289,78 mm gemessen, ein Wert, den die Beteiligten als valide ansahen.

Hainer halber DezimallschuhIn dem Besteinungsprotokoll der Grenze Ysenburg / Hessen-Darmstadt von 1783 wird erwähnt, dass die Hainer Ruthe bereits 1725 bei einer Grenzvermessung benutzt wurde. Auf einer Seite des Protokolls ist eine senkrechte Linie gezeichnet, die einem halben Dezimalschuh entsprach. Diese Line betrug für den halben Hainer Dezimalschuh 22,9 cm.

Eine Ruthe hatte zehn Dezimalschuh und 16 „übliche“ Schuhe. Demnach beträgt die Hainer Ruthe 4,58 Meter und der Hainer Schuh 28,62 cm. Der gemessene Ysenburger Fuß/Schuh ist demnach 3,5 mm länger als der Hainer Schuh. Bei einer Ruthe beträgt die Differenz 5,6 cm. Es ist schwer zu beurteilen, ob diese Unterschiede auf einer Ungenauigkeit der Messung hinsichtlich der Länge der senkrechten Linie im Protokoll beruhen, oder ob es sich um zwei unterschiedliche Maße handelt.

 Die verschiedenen Maßeinheiten sogar im gleichen Territorium waren ein großes Hemmnis, insbesondere für den Handel. 1817 wurde deshalb im Großherzogtum ein neues Maßsystem eingeführt. Man scheute sich jedoch, auf das französische metrische System umzusteigen, sondern benutzte die Ysenburger WappenNamen der alten Maßeinheiten, definierte sie jedoch auf Basis eines Zolls mit 2,5 cm. So betrug z.B. ein Werkfuß 30 cm, ein Klafter 2,5 Meter und eine Meile 7,5 Kilometer. Erst mit der Reichsgründung wurde 1872 das metrische System, wie wir es heute kennen, deutschlandweit eingeführt.

 Der Ysenburger Fuß im Neu-Isenburger Stadtmuseum Haus zum Löwen ist auf jeden Fall ein bemerkenswertes Zeitzeugnis aus der Gründungsepoche von Neu-Isenburg. Es vereint handwerkliches Geschick mit künstlerischem Gestaltungswillen, der sich z. B. in den beiden Wappendarstellungen manifestiert.  


Der Autor dankt Herrn Andreas Lerch von der Firma Hornung für die Möglichkeit, den Ysenburger Fuß einer Präzisionsmessung unterziehen zu können, sowie Herrn Christian Kunz vom Stadtmuseum Neu-Isenburg für die Bereitschaft, den Ysenburger Fuß für diese Messung zur Verfügung zu stellen. Der Ysenburger Fuß ist Eigentum der Ev.-ref. Gemeinde Am Marktplatz. Er wurde dem Stadtmuseum als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Mein Dank geht an die Gemeinde für das Einverständnis, den Stab vermessen zu lassen.